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Fragmente, Notizen, Aphorismen
Fragment zur Philosophie des Geistes
[1822 ff.]
Erstes Bruchstück Manuskript (ehem. Preußische Staatsbibliothek), herausgegeben von Friedhelm Nicolin ("Ein Hegelsches Fragment zur Philosophie des Geistes", Hegel-Studien Bd. 1, Bonn 1961, S. 17 ff.)
§ [1]
Die Philosophie des Geistes hat den Geist als unser inneres Selbst zum Gegenstande, - weder das uns und sich selbst Äußerliche noch das sich selbst schlechthin Innerliche, [-] unseren Geist, der zwischen der natürlichen Welt und der ewigen Welt steht und beide als Extreme bezieht und zusammenknüpft.
§ [2]
Der Mensch wendet sein Bewußtsein früher nach diesen beiden Seiten; er lebt, empfindet, schaut an, stellt vor, denkt, will und vollbringt und hat in allem diesem äußere Dinge oder seine Zwecke, andere und zwar beschränktere Gegenstände als seine Tätigkeit in allem diesem selbst vor sich. Ebenso geht er zugleich über diesen seinen endlichen Boden hinaus zum Unendlichen, als einem ihm Ferneren oder Näheren, aber einem solchen Anderen, in welchem er verschwebt.
§ [3]
Sich selbst zu erkennen, diese Richtung auf das, was unmittelbar gegenwärtig ist, wie die endlichen Gegenstände, und als ein Inneres, wie der unendliche Gegenstand, ist später.
Erkenne dich selbst ist das bekannte Gebot des delphischen Apollo und bezeichnet den eigentümlichen Standpunkt der griechischen Bildung als der sich selbst individuellen Geistigkeit. Es macht dem griechischen Sinne Ehre, durch die Inschrift Γνωϑι σεαυτόν auf dem Tempel des höchsten Wissens dies wahrhafte Selbstbewußtsein über die Eigentümlichkeit des griechischen Geistes bewiesen zu haben. Die Auslegung jenes Gebotes im Verstande einer Selbstkenntnis, die nur auf die partikulären Zufälligkeiten, Neigungen, Fehler, Schwächen usf. des Individuums ginge, wäre, könnte man sagen, des delphischen Apollo, des Wissenden, unwürdig, weil solche subjektive Menschenkennerei dem griechischen Geiste noch fremd und ein späteres, modernes Erzeugnis ist.
§ [4]
Der Geist, als in der § 1 angegebenen Stellung ein unterschiedenes Besonderes gegen die natürliche und gegen die ewige Welt, ist endlicher Geist. Indem aber die Philosophie einen Gegenstand in seiner Wahrheit betrachtet, hat sie den Geist in seiner von der Schranke unabhängigen Unendlichkeit zu betrachten. Weil der Geist sich auf die Natur und auf die göttliche Idee zugleich bezieht, somit beides zugleich in seiner Bestimmung liegen muß, so liegt hierin schon, daß die Endlichkeit nicht seine allgemeine Bestimmung ist.
§ [5]
Es können hier zunächst die endlichen Betrachtungsweisen des Geistes erwähnt werden, welche sonst die Philosophie des Geistes ausmachten und mit ihr verwechselt werden können.
§ [6]
a) Die Menschenkenntnis und Selbsterkenntnis bezieht sich auf das Zufällige und Besondere der Charaktere, ihre Neigungen, Leidenschaften, Gewohnheiten, Ansichten, Vorurteile, Launen, Schwächen, Fehler usf. - eine Kenntnis der Menschen, die oft mit der Kenntnis des Menschen, und deren Interesse und Wichtigkeit ebenso häufig mit dem Interesse und der Gewalt der Sache verwechselt wird.
Die Selbsterkenntnis hat ihr Interesse für den moralischen Zweck in Rücksicht auf das partikuläre Individuum und führt, wenn sie nicht das Substantielle und Gründliche der Moralität und Religiosität mehr vor Augen hat als die subjektiven Partikularitäten, leicht zu einer grüblerischen Ängstlichkeit, vornehmlich aber zu einer einbilderischen Selbstsucht. - Die sogenannte Menschenkenntnis, für welche man vorzüglich auch auf Romane, Schauspiele, ferner gemeine Gesellschaft usf. angewiesen ist, fällt nach der Seite der Klugheit im Leben vornehmlich hin und erlangt um so mehr Wichtigkeit in denjenigen, die desto weniger eigenen Gehalt des Charakters besitzen und sich auf Zwecke richten, die sich nicht durch die Sache selbst, sondern durch die Zufälligkeiten und Partikularitäten anderer zu erreichen hoffen, oder deren Geschäfte mit anderen es mehr mit deren Zufälligkeiten zu tun haben (wie z. B. die Kammerdiener). - Die Zufälligkeiten, Partikularitäten und noch mehr die bloßen Leidenschaften der Menschen können leicht mit dem verwechselt werden und das übersehen machen, was ihr substantieller Charakter und Wille ist. So geschieht es in einer psychologisch-pragmatischen Geschichtsansicht, daß die großen Begebenheiten nur als Produkte kleiner oder mächtigerer Leidenschanften und die Individuen in ihren Handlungen nur als von subjektiven Interessen regiert betrachtet werden, so daß die Geschichte auf diese Weise zu einem Spiele gehaltloser Tätigkeit und zufälligen Ereignisses herabsinkt.
§ [7]
b) Die Psychologie ist ihrem Fundamente nach gleichfalls empirisch, bringt aber die Erscheinungen in allgemeine Klassen und beschreibt dieselben unter dem Namen von Seelenkräften, Vermögen usf. und betrachtet den Geist nach den Besonderheiten, in die er auf diese Weise zerlegt ist, so daß er als eine Sammlung (ein Aggregat) solcher Vermögen und Kräfte vorgestellt wird, deren jede für sich nach ihrer Beschränktheit wirkt und mit den anderen nur in Wechselwirkung und somit äußerliche Beziehung tritt.
Alle Erkenntnis fängt subjektiv von Wahrnehmungen und Beobachtungen an, und die Kenntnis der Erscheinungen ist von höchster Wichtigkeit, ja eine durchaus unentbehrliche Kenntnis. Aber sowohl für die Wissenschaft als unmittelbar auch für einen solchen Gegenstand, wie der Geist ist, wird etwas ganz anderes erfordert als die Hererzählung von einer Reihe von Vermögen und die Darstellung derselben als einer unorganischen Menge. Die Forderung des harmonischen Zusammenhangs - (was ein Schlagwort in dieser Materie und ein so unbestimmtes ist, als sonst die Vollkommenheit war), in welchen jene Vermögen und deren Ausbildung gebracht werden soll, zeigt wohl die Erinnerung an eine wesentliche Einheit an, aber nur als eine sein sollende, nicht als die ursprüngliche Einheit des Begriffs, die doch jeder Mensch vor sich hat, wenn er den Geist sich vorstellt - nämlich als ein wesentlich an sich Eines, als eine Monade; diese Harmonie bleibt dann darum auch eine leere und sich nur in leeren Redensarten etwa amplifizierende Vorstellung, weil der Begriff, die ursprüngliche Einheit, nicht als das Prinzip, vielmehr das Gegenteil: die unorganische Vielheit und Besonderheit der Geisteskräfte vorausgesetzt ist.
§ [8]
c) Die rationelle Psychologie, Pneumatologie betrachtet den Geist in ganz abstrakter Allgemeinheit und ist die alte Metaphysik über den Geist, welche denselben oder die Seele als Ding und nach abstrakten Verstandesbestimmungen wie einfach oder zusammengesetzt, nach der Beziehung auf den Körper als auf ein schlechthin Selbständiges usf. faßte. In solcher Betrachtungsweise tritt das, wodurch der Geist Geist ist, nicht ein.
§ [9]
Es sind vornehmlich zwei Umstände, wodurch diese Betrachtungsweisen verdrängt worden sind: der eine ist die völlige Veränderung des Begriffs der Philosophie, welcher für die Wissenschaft weder empirische Erkenntnisse und Erscheinungen oder sogenannte Tatsachen des Bewußtseins, noch deren Erhebung zu Gattungen und Klassifikation, noch abstrakte Verstandesbestimmungen, überhaupt nicht die endliche Betrachtungsweise unseres gewöhnlichen Bewußtseins und reflektierenden Denkens für hinreichend und adäquat hält, sondern zum Gegenstand der Wissenschaft vom Geiste nur den lebendigen Geist und zur Form des Erkennens nur dessen eigenen Begriff und nach der Notwendigkeit seiner immanenten Entwicklung haben kann.
§ [10]
Der andere Umstand kommt von der empirischen Seite selbst und ist der animalische Magnetismus, welcher in der Welt des Geistes ein Gebiet von Wundern entdeckt und uns damit bekannt gemacht hat. Für die Auffassung der verschiedenen Zustände und sonstiger natürlicher Bestimmungen des Geistes, welche den Zusammenhang der Natur und des Geistes enthalten, wie für die Auffassung seines Bewußtseins und seiner geistigen Tätigkeit reicht, wenn man bei den Erscheinungen stehenbleibt, notdürftig die gewöhnliche endliche Betrachtungsweise hin, und der verständige Zusammenhang von Ursachen und Wirkung, den man den natürlichen Gang der Dinge nennt, findet in diesem äußerlichen Gebiete sein Auskommen. Aber in den Erfahrungen des tierischen Magnetismus ist es die Region der äußerlichen Erscheinungen selbst, in welcher der verständige Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen mit seinen Bedingungen von den räumlichen und zeitlichen Bestimmungen seinen Sinn verliert und innerhalb des sinnlichen Daseins selbst und seiner Bedingtheit die höhere Natur des Geistes sich geltend macht und zum Vorschein kommt. Es wird sich späterhin zeigen, daß die Erscheinungen des animalischen Magnetismus nicht aus dem Begriffe des Geistes, namentlich nicht über sein Denken und seine Vernunft, hinausgehen, daß sie im Gegenteil nur einem Zustande und einer Stufe angehören, in der er krank und in ein niedrigeres Dasein unter die Kraft seiner wahrhaften Würde herabgesunken ist. So töricht und eine so falsche Hoffnung es daher ist, in den Erscheinungen dieses Magnetismus eine Erhöhung des Geistes und eine Eröffnung von Tiefen, die weiter gingen als sein denkender Begriff, sehen zu wollen, so sind es dagegen diese Erscheinungen, welche im Felde des Erscheinens selbst nötigen, den Begriff des Geistes herbeizurufen, und nicht gestatten, bei dem begrifflosen Auffassen des Geistes, nach der gewöhnlichen Psychologie und nach dem sogenannten natürlichen Gange der Dinge, mehr stehenzubleiben. Die an diesen Erscheinungen sich beweisende Idealität der sinnlichen und verständigen, überhaupt der endlichen Bestimmungen ist es, wodurch dieses Gebiet für sich eine Verwandtschaft zur Philosophie hat, so wie es auch für die Geschichte, in welcher so vieles unter dem Namen des Wunderbaren von dem Verstand, der den Zusammenhang äußerlicher Ursachen und Wirkungen und die Bedingtheiten des sinnlichen Daseins zum Maßstabe der Wahrheit nimmt, so vieles, Ereignisse und Individuen, mißhandelt und verworfen worden ist, eine versöhnende Wichtigkeit hat.
Von schriftstellerischen Werken über die Natur des Geistes, welche von einem höheren Standpunkte der Philosophie ausgehen, als aus welchem die § [6] ff. genannten Ansichten und Wissenschaften entsprangen, sind zwei zu nennen: [C. A.] Eschenmayers Psychologie in drei Teilen als empirische, reine und angewandte, Stuttg. u. Tüb. 1817. Der zweite Teil enthält eine Logik, Ästhetik und Ethik, der dritte eine Kosmologie oder Physik; diese beiden Teile gehören also nicht hierher. Der erste, die Psychologie, macht sogleich als empirische für sich keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit; der zweite Teil, die reine Psychologie, [soll] die Bestimmung haben, die Prinzipien jenes empirischen Materials auf[zu]stellen und von dem dabei nur vorausgesetzten Schema die Konstruktion gefunden und seine Abkunft aufgezeigt [zu] haben. Eschenmayer setzt aber sogleich (§ 289) die spekulative Erkenntnis, die hier eintreten soll, bloß 1. in Reflexionen durch Begriffe, Urteile und Schlüsse und 2. in ideale Anschauung. So findet sich in diesem zweiten Teil die gewöhnliche Methode, eine Voraussetzung zu analysieren, darüber zu reflektieren, und das hierbei unentbehrliche, in der Tat ganz empirische und willkürliche Verfahren, den Inhalt ganz beliebig herzuerzählen und zu bestimmen, - der gebrauchte Name: ideale Anschauung, tut nichts zur Sache; so spricht jeder, der seine Kenntnisse und Vorstellungen in einer beliebigen Ordnung abhandelt, aus idealer Anschauung. Es ist in dieser Darstellung daher gerade die spekulative Erkenntnisweise, welche man gänzlich vermißt; und an deren Stelle dagegen die bekannte Manier, ein Schema vorauszusetzen und die vorhandenen Materialien unter dasselbe zu rubrizieren, in Verbindung mit einem Herrn Eschenmayer eigentümlichen Formalismus, mathematische Terminologie an die Stelle von Gedanken zu setzen, herrschend. [Heinrich] Steffens Anthropologie in 2 Bänden, Breslau 1822, verflicht Geologie so sehr mit Anthropologie, daß auf die letztere etwa der 10te oder 12te Teil des Ganzen kommt. Da das Ganze aus empirischem Stoffe, aus Abstraktionen und aus Kombinationen der Phantasie erzeugt, dagegen das, wodurch Wissenschaft konstituiert wird, Gedanke, Begriff und Methode, verbannt ist, so hat solches Werk wenigstens für die Philosophie kein Interesse. Die spekulative Betrachtung und Erkenntnis der Natur und Tätigkeit des Geistes ist in neueren Zeiten bis auf die Ahnung davon so sehr untergegangen, daß noch immer die Schriften des Aristoteles über diesen Teil der Philosophie beinahe oder, da die tiefen Ansichten des Spinoza doch nur ein Anfang sind, und weil sie, wie seine ganze Philosophie, nur Anfang sind, auf einer nur einseitigen Metaphysik beruhen, Leibnizens Betrachtungen aber einerseits gleichfalls nur metaphysisch, andererseits nur empirisch sind, - so bleiben also durchaus die Aristotelischen Schriften die einzigen, welche wahrhaft spekulative Entwicklungen über das Sein und die Tätigkeit des Geistes [enthalten,] obgleich nichts so sehr mißverstanden worden ist als die Aristotelische Ansicht von der allgemeinen Natur des Erkennens, daß man sogar den Aristoteles an die Spitze der Empiriker gesetzt hat und diese Ansicht seiner Lehre in allen Geschichten der Philosophie als ein festes Vorurteil zu finden ist; die Aristotelischen Spekulationen aber über die Empfindung und überhaupt über die besonderen Wirksamkeiten des Geistes sind für die Psychologie ganz unbeachtet geblieben.
§ [11]
Die Philosophie des Geistes kann weder empirisch noch metaphysisch sein, sondern hat den Begriff des Geistes in seiner immanenten, notwendigen Entwicklung aus sich selbst zu einem System seiner Tätigkeit zu betrachten.
Die empirische Betrachtungsweise des Geistes bleibt bei der Kenntnis der Erscheinung des Geistes stehen, ohne den Begriff desselben; die metaphysische Betrachtungsweise will es nur mit dem Begriffe zu tun haben, ohne seine Erscheinung; der Begriff wird so nur ein Abstraktum und die Bestimmungen desselben ein toter Begriff. Der Geist ist dies wesentlich, tätig zu sein, das heißt sich, und zwar nur seinen Begriff, zur Erscheinung zu bringen, ihn zu offenbaren. In jeder besonderen philosophischen Wissenschaft ist das Logische, als die reine allgemeine Wissenschaft, hiermit als das Wissenschaftliche in aller Wissenschaft vorausgesetzt.
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